Es brennt
Der Strohmann: Hom Strom
Klare Ordnung und Struktur
Es ist der erste Samstag im Februar. Zwischen „Punt“ und „Plaz“ in Scuol herrscht emsiges Treiben. Ein Gewusel von Kindern aller Altersklassen und Erwachsenen, von Lehrern, Gästen und Eltern, belebt das Unterdorf. Staub tanzt im diffusen Winterlicht und kitzelt in der Nase. Wir hören Peitschen knallen, riechen Stroh und Punsch und wissen: Heute feiert Scuol «Hom Strom».
Wer genau hinschaut, erkennt bald einen klaren Ablauf und die unterschiedlichen Aufgaben jeder Altersklasse: Die jüngsten Schüler tragen Stroh herbei, legen es mitten in die Menge ab und holen dann die nächste Ladung aus dem Heustall der Gemeinde. Auf dem Dorfplatz spinnen die älteren Kinder das Stroh zu zwei langen, immer dickeren Strängen. Die kräftigsten wickeln diese dann satt um den 9 Meter langen Holzmast – der Strohmann wächst zusehends.
Ritual aus der Heidenzeit
Die Sonne steht mittlerweile schon weiter über dem Piz Pisoc und wärmt den gepflasterten Platz. Ihr ist dieser ganze Aufwand gewidmet. Der Brauch des «Hom Strom» geht weit zurück in die Heidenzeit. Aus dem Sonnenverlauf, dem Termin anfangs Februar und der Tatsache, dass es diesen Brauch nur hier gibt, geht die Annahme hervor, dass der Hom Strom ursprünglich eine Art Opfergabe an die Götter und die Sonne war - für einen langen und ertragreichen Sommer.
Kindheitserinnerungen werden wach
Aus dem letzten Sommer stammt der Rohstoff für den Hom Strom: Roggenstroh. Dieses eignet sich als hochwachsende Getreideart besonders gut für die Aufgabe. Gemeinsam mit den Lehrern haben es die Oberstufenschüler selbst gemäht und für den Einsatz im Februar eingelagert. Heute kontrollieren sie die fragilen Abläufe mit klaren Kommandos und verhelfen dem „Hom Strom“ über drei Stunden zu seiner vollen Pracht. Am Rande des Geschehens gibt es Heissgetränke, Kuchen und Anekdoten. Manch ein Scuoler erinnert sich gut und gern an seine eigene Schulzeit zurück, als er selbst die ehrvollen Aufgaben ausführte.
Spiel mit Feuer und Licht
Die Sonne ist mittlerweile hinter den Bergen im Südwesten abgetaucht. Noch vor dem Eindunkeln bringen die Verantwortlichen den 500 Kilogramm schweren Hom Strom über die Brücke nach Gurlaina und stellen ihn gemeinsam mit Vertretern des Gemeinderats auf. Im Anschluss bewachen die Schüler den Strohmann vor Übeltätern, während sich immer mehr Zuschauer um das Geschehen versammeln. Die „Wachen“ schwenken petrolgetränkte Lumpen, die sie zu dichten Kugeln gepresst und an Ketten gebunden haben, durch die Luft. Rund um den Strohmann aufgestellt zeichnen sie mit den Feuerkugeln Kreise in die dunkle Nacht.
15 Minuten Staunen
20.00 Uhr: Endlich ist es soweit. Mit dem Glockenschlag am Kirchturm wird der Hom Strom entfacht: Die Feuerkugeln fliegen zum Fusse des Strohmannes, der innert kürzester Zeit lichterloh brennt. Wie Fahnen wehen die Flammen des Strohmanns in alle Himmels-Richtungen – laut der Überlieferung ein gutes Zeichen. Hunderte von Zuschauern bestaunen sein Feuer, während die Einheimischen unter musikalischer Begleitung das Hom Strom-Lied singen.
Rund eine Viertelstunde später sind die letzten Strohbüschel erloschen, der bare Holzmast steht allein im Dunkeln da. Der Hom Strom ist weg. Sein Licht lebt aber in den funkelnden Augen der begeisterten Besucher weiter.
Text: Niculin Meyer
Bilder: Dominik Täuber, Niculin Meyer