Unterengadiner Kultur.
Engadinerhäuser & Sgraffiti

Auf Spurensuche.
Eine Tradition im Unterengadin
Eine Tradition für alle Ewigkeit
Die Sonne scheint und spielt mit den Sgraffiti an den Häuserwänden der Ortschaft Susch im Unterengadin. Die Schatten betonen je nach Sonnenstand stets eine andere Facette der Sgraffiti, sodass es niemals langweilig wird, die Fresken zu beobachten. Rosetten, ein lebensgrosser Gamsbock, abstrakte Grafiken – viele der Sgraffiti in Susch stammen von Josin Neuhäuslers Vater; er selbst half mit und lernte viel. Der Maler betont mit Nachdruck, dass es im Engadin weitaus bessere Sgraffito-Künstler als ihn gebe. Aber er ist derjenige, der Gästen und Einheimischen regelmässig zeigt, was es mit dem traditionellen Engadiner Kunsthandwerk auf sich hat. Einmal rum ums Haus, ein Hügelchen bergab und schon steht man in der Werkstatt, in der Neuhäusler für rund 800 Gäste im Jahr seine Sgraffito-Kurse gibt. Draussen wärmt die Herbstsonne, aber im Untergeschoss ist es frisch. Muss es auch sein, sonst würde das Sand-Kalk-Gemisch, in das die Zeichnungen geritzt werden, zu schnell trocknen. Für seine Gäste hat Josin Neuhäusler rund 30 mal 30 Zentimeter grosse Platten vorbereitet, auf denen sich die Gäste verewigen können. Der Maler reicht einen Schnellhefter herum, der Ideen für traditionelle Motive und die Erklärungen dazu gleich mitliefern soll. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Drachen, der Quellen und Seen beschützt?
Quelle: Contura, rhb.ch
Einheimischer, Maler – Josin Neuhäusler

Weich, wie Vanillecreme
Aber klar, die richtigen Sgraffiti entstehen nicht in Neuhäuslers Atelier. Sondern draussen, live am Haus. Die wichtigste Zutat? Kalk. Früher brannte man aus Rohmaterialien, die man in alten Bruchsteinmauern fand, den Kalk in Kalköfen. Löschte man das Feuer mit Wasser, entstand eine Masse «weich wie Vanillecreme», sagt der Maler und Gipser. Die Creme wurde in Fässern gelagert – je länger, desto besser. Bei Bedarf nahm man das älteste Fass zuerst hervor, mischte die Creme nochmals mit Sand und Kalk und verputzte damit die Häuser. «Über die Steine kommen fünf bis sieben Schichten des Gemischs», erklärt Neuhäusler. Wichtig: Der Untergrund muss immer wieder mit Wasser benetzt werden, damit sich auch noch die äusserste Schicht mit den Steinmauern des Hauses verbinden kann. Die richtige Menge Sand ist ebenso entscheidend: «Die Grundschicht muss möglichst grau sein, damit man die Effekte der Sgraffiti gut erkennen kann.» Dann heisst es erst einmal – warten. Die gesamte Fassade muss gute sechs Wochen lang trocknen, bevor die Sgraffito-Künstler anrücken. Sie besprechen die Motivwünsche mit den Hausbesitzern Monate im Voraus und zeichnen sich Vorlagen auf Papier. Zwischen Mai und August – sonst ist es für die Arbeiten auf dem Gerüst zu kalt – geht es los. «Ideal ist ein feuchter Regentag», sagt Josin Neuhäusler, «damit man gute sieben Stunden hat, um die gesamte Seite eines Hauses zu bearbeiten – schliesslich muss sie eine durchgängige Struktur haben.» Dabei hilft ein feines Netz, das über das Gerüst gespannt wird: «Es sorgt für Schatten und schützt vor Wind. Gleichzeitig kommt die Feuchtigkeit durch das Netz hindurch.» Sobald die Maler eine weisse Kalkschicht über der Grundbeschichtung aufgetragen haben, sind die Sgraffito-Künstler an der Reihe. Jeder ist für einen Arbeitsschritt verantwortlich – schliesslich hat jeder seine eigene Handschrift. Im ersten Arbeitsgang kratzt ein Künstler die Motive vor, im zweiten nimmt ein anderer die Kalkschicht weg. In einer dritten Runde werden die letzten Feinheiten ausgekratzt. Hierfür dürfen meist nur Profis ans Werk: «Das ist das Schwierige an unserem Beruf: Man ist auf dem Gerüst und muss den Effekt aus 15 Metern Entfernung einschätzen – und wissen, was man eine Etage weiter oben gekratzt hat.» Der Endspurt ist nicht zu unterschätzen: Sobald der Putz hart wird, darf man nicht mehr kratzen, weil der Putz wegen der Schwingungen platzen könnte. Dazu kommen höhere Gewalten ins Spiel: «Wir sind für rund 50 Prozent des Ergebnisses verantwortlich, 50 Prozent entscheidet die Sonne», sagt Josin Neuhäusler. Deshalb müssen die Künstler auch exakt auf den Sonnenstand achten – je nachdem, aus welchem Winkel die Sonne auf das Sgraffito scheint, ergeben sich andere Effekte.
Ein Einzelstück, das 300 Jahre lang hält
Neuhäusler schätzt diesen schwierigen Aspekt seiner Arbeit jedoch sehr: «Nach drei Monaten kommt man zurück zu einem Haus und schaut sich einen ganzen Tag lang die schönen Effekte an.» Ausserdem weiss der Bündner, dass er stets ein Einzelstück hinterlässt, das 200 bis 300 Jahre lang halten soll. Weil die Sgraffiti so lange halten, sieht man heute im Engadin noch so viele der Kunstwerke. Die Tradition lebt weiter, wenn auch nicht mehr auf jedem Neubau. «Vor 30 Jahren gehörten Sgraffiti auf jedes Haus, jetzt ist es ruhiger geworden», sagt Josin Neuhäusler. «Heute baut man andere Häuser – Fertighäuser, zum Beispiel aus Holz. Wobei Sgraffiti sich auch gut auf modernen Fassaden machen.» Josin Neuhäusler legt Schrauben und Zirkel zur Seite, mit denen er auf der kleinen Platte die Prinzipien des Sgraffito-Zeichnens erklärt hat. Von seinem Atelier ist es nur ein Katzensprung bis in die Dorfmitte. Stolz posiert er vor dem Gamsbock, den sein Vater und er an eine Hauswand gezaubert haben. Die Sonne scheint und wirft Schatten auf die Kunstwerke im Dorf. Und Josin Neuhäusler hat recht. Die Sonne wandert und die Effekte der Sgraffiti verändern sich. Man könnte in der Tat den ganzen Tag hier sitzen bleiben und zuschauen.
Quelle: Contura, rhb.ch

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