Chamanna Cluozza.
Die gelebte Nachhaltigkeit der Familie Naue
Nach rund dreieinhalb Stunden wandern erreicht man von Zernez die Chamanna Cluozza, schön gelegen auf einer Anhöhe in der wilden Val Cluozza mitten im Schweizerischen Nationalpark. Zur Begrüssung bekommt jeder Gast ein Glas Tee gereicht, aus Bio-Kräutern angebaut in Guarda.
Herzlich willkommen in der Wildnis
«Der persönliche Empfang ist für uns sehr wichtig und Teil unserer Nachhaltigkeitsphilosophie», sagt Nicole Naue, die zusammen mit ihrem Mann Turi die einzige Hüttenunterkunft im Nationalpark führt.
Nichts als unberührte Natur
Dank der Abgeschiedenheit und der einfachen Einrichtung bietet die Hütte ein authentisches und naturnahes Erlebnis. Die Chamanna Cluozza ist deshalb sehr beliebt. Im Durchschnitt übernachten pro Saison 4500 Gäste darin, ein Spitzenwert im Vergleich zu anderen Berghütten. 2022 waren es sogar 5700 Gäste – Rekord!
Gründe für das Rekordjahr waren einerseits das andauernd schöne Wetter, andererseits die Wiedereröffnung nach einem grossen Umbau. Die Hütte so emissionsarm, ressourcenschonend und energieautark wie möglich betreiben zu können, war das Ziel der Erneuerung.
Nachhaltigkeit praktisch umsetzen
Der Nationalpark möchte damit ein Vorzeigebeispiel eines nachhaltigen Hüttenbetriebs schaffen – genau die richtige Herausforderung für die Familie Naue, die Umweltbewusstsein praktisch vorlebt und kreativ umsetzt.
Lärchenblütensirup statt Coca Cola
Wer sich nach dem anstrengenden Hüttenaufstieg nach einem kühlen Coca Cola sehnt, dem erklären sie: «Damit können wir Ihnen leider nicht dienen. Wie wär‘s stattdessen mit einem hausgemachten Sirup? Wir haben Lärchenblüte, Traubenkirsche oder Colakraut, alles aus der Region. Gerne servieren wir Ihnen den Sirup auch gesprudelt.»
Alles, was man in der Hütte sieht und isst, wurde mit viel Aufwand hochgebracht.
Nicole und Turi Naue verzichten darauf, Süssgetränke und Mineralwasser in PET-Flaschen mit dem Helikopter auf die Hütte fliegen zu lassen, sondern nutzen das geprüfte Quellwasser vor Ort. Einige Gäste seien schon überrascht, doch die positiven Reaktionen überwiegen, sagt Nicole.
Vier Transportflüge weniger
Die Sirupe und Tees werden geschätzt, da sie etwas Besonderes und Lokales sind. Und vor allem konnten so rund drei Tonnen Gewicht respektive vier Transportflüge eingespart werden. Das bedeutet: weniger Lärm, weniger CO2-Emmissionen und weniger Abfall.
Turi sagt: «Uns geht es auch darum, die Leute zu sensibilisieren; ihnen aufzuzeigen, dass alles, was sie in der Hütte sehen und essen, mit viel Aufwand hochgebracht worden ist.»
Rucksack statt Helikopter
Viel Aufwand bedeutet: per Helikopter oder zu Fuss. Alle, die in der Hütte arbeiten, tragen beim Aufstieg ein paar Kilo Lebensmittel hoch. Und auch die Gäste selber können die Hütte mit frischen Produkten beliefern. Denn wer von Zernez zur Hütte wandert, kommt an einem Kühlschrank vorbei und kann Kartoffeln, Karotten, Salat etc. in seinen Rucksack packen.
Nicole und Turi waren überrascht, wie viel die Gäste zur Hütte brachten: «Wandergruppen machten sich einen Spass daraus, den ganzen Kühlschrank zu leeren, so dass wir ihn zweimal pro Tag füllen konnten. Auch Kinder trugen stolz eine Stange Lauch oder ein paar Rüeblis hoch.»
Drei weitere Flüge vermieden
Insgesamt transportierten Gäste über zwei Tonnen Lebensmittel. In Helikopterladungen ausgedrückt bedeutet das: Drei weitere Flüge durch die einsame Val Cluozza konnten vermieden werden.
Finanziell lohnen sich die eingesparten Heliflüge allerdings nicht direkt, meint Turi, da das Befüllen des Kühlschranks und die häppchenweise Entgegennahme auf der Hütte einen logistischen Mehraufwand bedeuten. «Doch für die Umwelt ist jedes eingesparte Kilo wertvoll.»
«Nachhaltiges Reiseziel» von TourCert
Das aktive Umweltbewusstsein auf der Chamanna Cluozza ist zertifiziert. Seit dem Sommer 2022 trägt sie die Auszeichnung «Nachhaltiges Reiseziel» des internationalen Zertifizierungsanbieter TourCert. Dies in Zusammenarbeit mit den Ferienregionen Engadin Scuol Zernez und Val Müstair – die erste von TourCert ausgezeichnete Destination der Schweiz.
Ganz ohne Versorgungsflüge geht es auch auf der Nationalpark-Hütte nicht. Denn die Gäste essen viel mehr, als die Leute hochtragen können. Auch alkoholische Getränke – Weinflaschen und Bierfässer für den Offenausschank – werden hochgeflogen.
Rund einen Drittel der Versorgungsflüge konnten wir einsparen.
Als ehemalige Umweltbeauftragte der SAC-Sektion Bern kennt Nicole Naue die Flugfrequenzen von anderen Hütten und erklärt: «Verglichen mit dem Durchschnitt haben wir rund einen Drittel weniger Helikopterflüge verzeichnet, gerechnet nach geflogenen Kilo pro Übernachtung.»
Weniger Helikopterflüge sind die eine Seite eines nachhaltigen Konzepts, ein möglichst autarker und umweltschonender Hüttenbetrieb die andere. Den entscheidenden Grundstein dafür legte der Schweizerische Nationalpark mit dem Umbau im 2021, als er über 2,7 Millionen Franken in die Hütte investierte.
Einfache Berghütte geblieben
Die Investitionen flossen hauptsächlich in Nachhaltigkeitsprojekte: zum Beispiel in die Optimierung des Kleinstwasserkraftwerks oder in die neue Abwasserreinigung mittels Wurmkompost und pflanzlicher Klärung. Die Hütte selbst ist wie zuvor bewusst einfach eingerichtet, passend zum Charme dieses wunderbaren Ortes.
Ein Wohnturm fürs Hüttenteam
Ins Auge fallen das neue Dach aus Engadiner Lärchenholzschindeln und der neue Wohnturm hinter der Hütte. In diesem befinden sich die Privaträume von Nicole, Turi und ihren beiden Jungs Leo (7) und Till (6). Das Personal schläft ebenfalls im schlichten Strickbau aus Lärchenholz. «Architektonisch betrachtet, die wohl exklusivste Hüttenteambehausung im Alpenraum», wie die gelernte Architektin Nicole Naue ihren Rückzugsort nennt.
Bevor die Familie Naue die Chamanna Cluozza übernahm, hatten sie während sieben Jahren die Trifthütte im Berner Oberland geführt. Dort wurde die Familie zweimal für «SRF bi de lüt – Hüttengeschichten» porträtiert. Nachdem im Januar 2021 eine Lawine grosse Teile der Trifthütte zerstört hatte, musste der Betrieb eingestellt werden und die Familie eine neue Hütte suchen.
Vom Hochgebirge in den Nationalpark
Der Wechsel von der kargen Hochgebirgshütte (2520 m) in die von Lärchen umgebene Nationalpark-Hütte (1889 m) freute auch die Kinder. Hier sehen sie Wildtiere, seltene Vogelarten, eine vielfältige Pflanzenwelt und den Wandel der Jahreszeiten. Zudem übernachten hier viel mehr Familien mit Kindern.
Spannender Naturspielplatz
Leo und Till gehen in Zernez zur Schule, sind aber so oft wie möglich auf der Hütte und helfen mit. Eine wichtige Aufgabe ist, den anderen Kindern zu zeigen, wo sie spielen dürfen und wo nicht. Der erlaubte Bewegungsradius rund um die Hütte ist zwar nicht sehr gross, dafür umso spannender. Im Schweizerischen Nationalpark darf man die Wanderwege bekanntlich nicht verlassen, das gilt für Gäste genauso wie für die Hüttenwartfamilie.
Wir kochen und backen praktisch alles selber. Auf Fertigprodukte verzichten wir komplett.
Regional und möglichst Bio
Frische und regionale Produkte zu verarbeiten, wenn möglich Bio, ist ein weiterer Bestandteil der gelebten Nachhaltigkeit auf der Chamanna Cluozza. «Wir kochen und backen praktisch alles selber, auch Engadiner Nusstorten und Brot aus Granalpin-Bio-Mehl. Auf Fertigprodukte verzichten wir komplett», sagt Nicole Naue. Zum Abendessen gibt es immer eine vegetarische und meist eine fleischhaltige Variante, etwa zwei Drittel kommen als Vegi auf den Tisch, ein Drittel als Fleisch.
Das viele Gemüse zu rüsten sowie Brot und Torten zu backen, ist mit grossem Aufwand verbunden. Die viele Arbeit erledigen Nicole und Turi Naue zusammen mit drei Angestellten sowie freiwilligen Helferinnen und Helfern. Rund 50 Personen aus ganz Europa kamen im Sommer 2022 auf die Hütte, um ein paar Tage mitanzupacken. Für Kost, Logis und das einzigartige Hüttenerlebnis im Nationalpark.
Familienkompatible Preise
«Wir möchten unser Angebot zu angemessenen, familienkompatiblen Preisen weitergeben, darum sind wir auf viele Freiwillige angewiesen. Ohne sie könnten wir unser Konzept nicht umsetzen», erklärt Turi. «Zudem ist es eine grosse Freude, mit so verschiedenen Personen etwas bewegen zu können.»
Text: Franco Furger
Bilder: Andrea Badrutt
Video: On Air AG