Eisenbähnler und Unterengadiner mit Leib und Seele
Simon Rohner
Es ist ein früher Wintermorgen. Die Anzahl Fahrzeuge vor der Verladestation Sagliains ist noch überschaubar, als sich Simon Rohner in die Warteschlange einreiht. Ihm steht eine 18-minütige Fahrt durch den rund 19 km langen und 1999 eröffneten Vereinatunnel nach Selfranga im Prättigau bevor. Er erachtet es als grossen Vorteil, dass er auf seinem üblichen Arbeitsweg praktisch alle Mitarbeitenden trotz der weiten Distanzen persönlich sieht. An die 40 Kolleg*innen gehören zu seinem sehr konstanten Team. Einige sind schon seit der Eröffnung des Tunnels dabei, andere sogar schon fast 40 Jahre bei der RhB. Er selbst begann 1991 bei der RhB als Betriebsdisponent und leitete danach von 1997 bis 2014 den Verkauf Unterengadin. Dann überzeugte ihn sein Vorgesetzter, den Autoverlad zu übernehmen. Eine Funktion, die er bis heute innehat. Als Leiter des Autoverlads Vereina und des Betriebs Scuol-Tarasp/Zernez bildet die Personalplanung einen wichtigen Stellenwert seiner täglichen Arbeit. Mit dieser beginnt er nun in seinem Büro, welches sich in Selfranga im Bahnhofsgebäude direkt beim Tunnel befindet.
Einsätze an der Front
Im kleinen Raum befinden sich ein runder Sitzungstisch und zwei Arbeitsplätze. Simon Rohner teilt sich Büro und Aufgaben mit seinem Stellvertreter, was an Spitzentagen die Koordination in zwei Schichten zulässt. Operativ ist den ganzen Winter über ein Drei-Schicht-Betrieb beim Verlad und an der Kasse im Einsatz, um die 20-stündige Betriebszeit von 5.00 bis 1.00 Uhr abzudecken. Im Sommer kann der kürzere Betrieb in zwei Schichten bewältigt werden. Simon steckt mitten in der Feinplanung des kommenden Wochenendes, als sein Telefon klingelt. Er wird an der Verladerampe gebraucht. Durch seinen Bürostandort ist er sofort einsatzbereit, wenn plötzlich viel Verkehr aufkommt oder allgemeine Hilfe benötigt wird. So kann auch er hin und wieder beim «Tischlen» der Autos mithelfen. Ein Ausdruck, den sein Team für das Einweisen der Fahrzeuge auf dem Zug verwendet.
An meinem Beruf liebe ich die Abwechslung zwischen Einsätzen an der Front, organisatorischen Aufgaben und strategischen Projekten.
Ohne Vorbereitung geht nichts
An den Wochenenden im Winter herrscht jeweils viel Betrieb. Glücklicherweise kommen die sehr langen Wartezeiten nur an drei bis vier Samstagen pro Jahr vor und auch nur für einige Stunden. Wenn es einen dann trifft, ist es natürlich ärgerlich. Dafür hat Simon vollstes Verständnis. Daher ist eine gute Planung das A und O seiner Arbeit. Diese beginnt jeweils schon im Sommer, wenn die Winter-Ferienpläne der Schweiz und umliegenden Länder gesammelt werden. Darauf folgt die Grobplanung, wann wie viele Züge und Mitarbeitende benötigt werden. Schliesslich wird die Planung immer feiner. Zwei bis drei Tage vor dem Wochenende erfolgt dann der letzte Feinschliff, wenn Wetter und Strassenverhältnisse einigermassen vorhersehbar sind. Doch auch mit der besten Planung bleibt immer ein kleiner Unsicherheitsfaktor bestehen. Das hält die Arbeit spannend und dank der jahrelangen Erfahrung von Simon und seinem Team gelingt die Planung meistens sehr gut.
Ein Autoverlad bietet naturgemäss Konfliktpotenzial. Fahrzeuglenker*innen müssen sich als ‹Individualist*innen› in ein generalisiertes System einfügen, warten und erst noch dafür bezahlen.
Ersatz für eine halbe Million Passfahrten
Im Jahr 2000, dem ersten durchgängigen Betriebsjahr des Autoverlads, wurden etwa 300'000 Fahrzeuge transportiert. Aktuell sind es pro Jahr jeweils gut eine halbe Million. 2019 war das Rekordjahr mit 527'000 verladenen Fahrzeugen, wobei damals der Flüelapass im Frühling einen Monat länger als üblich geschlossen war. Für die operative Arbeit stehen dem Autoverlad drei Züge zur Verfügung. Zwei verkehren jeweils im Halbstundentakt, der dritte kann bei Bedarf zur Entlastung eingesetzt werden. Im Sommer ist dieser dritte Zug jeweils in Wartung. Er kann jedoch rasch in ein bis zwei Stunden einsatzbereit gemacht werden, wenn beispielsweise wetterbedingt plötzlich der Pass geschlossen werden muss und mehr Verladekapazität benötigt wird. Die Organisation des Lokführers gestaltet sich da schon schwieriger, je nach dessen Anreisezeit.
«Troubleshooter» des Autoverlads
Unterdessen ist es Nachmittag. Simon arbeitet an einem neuen Rettungskonzept mit Anschaffung weiterer Fahrzeuge. Projektarbeit bildet einen wichtigen Teil seiner Funktion, wenngleich er nur unterstützt und die Projekte von der Abteilung Infrastruktur geführt werden. So half er in den letzten Jahren beispielsweise bei der Erneuerung des Kassen- oder des Verkehrslenkungssystems mit. Fortlaufende Themen sind etwa die Erneuerung der Fahrleitungen oder der Gleisersatz im Tunnel. Da er auch für das betriebliche Interventionsmanagement zuständig ist, muss er jederzeit bei einem Zugvorfall im Unter- oder Oberengadin ausrücken und als «Troubleshooter» vor Ort die Situation koordinieren können.
Als mir einmal der Schlüssel eines neuen Lamborghinis in die Hand gedrückt wurde, der auf dem Zug nicht mehr ansprang, war ich ganz perplex. Umso mehr, als sich der Lenker danach ein Taxi nahm und nur über den Abholort des Wagens informiert werden wollte.
Im Einsatz für die Gemeinschaft
Als es gegen Abend geht, wird es Zeit für Simon, den Rückweg durch den Vereina anzutreten. Auf ihn wartet eine Sitzung im Gemeinderat Zernez, wo er für den Bereich Tourismus und Sport strategisch verantwortlich ist. Seit er 20 Jahre alt ist, setzt er sich nebenberuflich für die Allgemeinheit ein. Dies begann mit der Feuerwehr und umfasste später Verwaltungsratsmandate in der regionalen Tourismusorganisation, bevor ihn die politische Ebene reizte. Vor der Sitzung schaut er kurz zu Hause in Lavin vorbei – seinem Lieblingsort, wie er verschmitzt anmerkt. Bis auf sieben Jahre in Fribourg für seine Ausbildung hat er hier sein ganzes Leben verbracht. Besonders schwärmt er von der beinahe mystischen Ebene «Plan dal Bügl» oberhalb des Dorfes in Richtung Linardhütte. In seinem Haus, einer ehemaligen Schmitte, betätigt er sich zum Ausgleich gerne handwerklich in seiner Werkstatt. In einer Stadt zu wohnen, kann er sich nicht vorstellen. Er ist ein Unterengadiner mit Leib und Seele.
Text: Roger Kreienbühl
Bilder: Claudio Daguati