Künstler. Schlossherr. Sentiner
Not Vital
«House to watch the sunset»
Als wir zur Schule gingen, gab es nur fünf Kontinente
Es ist ein heisser Sommertag im Unterengadin. Freitag, der 13., um genau 13.13 Uhr. Gespannt blicken die versammelten Gäste nach oben. Dorthin, wo Not Vital steht. Auf der Treppe zu seinem neu erbauten «House to watch the sunset». Dann endlich, als die Champagner-Flasche geköpft ist und der prickelnde Inhalt über die unteren der insgesamt 39 Stufen fliesst, ist es eröffnet, das nun schon dritte Haus.
Agadez, Niger. Amazonas, Brasilien. Und nun auch in Tarasp im Engadin. Drei Treppen und vier Stockwerke mit einer Gesamthöhe von 13 Metern umfasst das Werk. Nur einen Steinwurf vom Schloss entfernt. Die Fahnen, welche dort auf dem Dach im Wind wehen, sind gut zu erkennen. Links diejenige vom Niger, rechts die von Brasilien - die Standorte der ersten beiden «Houses to watch the sunset».
Beim Bau verlässt sich Vital auf die Ressourcen der Region. Sein Bruder Duri Vital hat ihn als Architekt unterstützt und eine Baufirma aus Ardez verwirklichte schliesslich seine Idee. Der Sand für den Beton stammt aus dem Inn. «Alles ist in einem Umkreis von ungefähr 13 Kilometern entstanden» meint er und wird mit einem herzlichen Lachen der Zuhörer belohnt.
«Als wir zur Schule gingen, gab es nur fünf Kontinente» erzählt Not Vital. Folglich sollen zwei weitere Häuser, eines aus Aluminium auf einer Insel im Südpazifik sowie eines aus Eisen in der Mongolei, entstehen. Den Besuchern der Eröffnung gefällt das Kunstwerk, welches übrigens gemäss dem Künstler in 13 Minuten konzipiert wurde, jedenfalls sichtlich und das Unterengadin ist um einen neuen Blickfang reicher.
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Der Schlossherr
Nicht ganz neu hingegen ist das Wahrzeichen des Tals im Dreiländereck Schweiz-Österreich-Italien: Das Schloss Tarasp.
Es wurde um das Jahr 1040 von den Herren von Tarasp erbaut, zwischenzeitlich durch eine österreichischen Grafschaft übernommen und schliesslich 1803 durch Napoleon an die Helvetische Republik übertragen. 1900 entschied sich der Industrielle Dr. Karl August Lingner - Erfinder des Odol Mundwasser - während einem Kuraufenthalt in Vulpera die zu dieser Zeit eingefallene Festung zu erwerben und zu renovieren. Nach seinem Tod im Jahr 1916 ging das Schloss an die Familie Ernst Ludwig von Hessen und blieb so lange in ihrem Besitz bis 2016 Not Vital das Schloss nach langen Verhandlungen - die Familie suchte einen Käufer - für 7.9 Millionen Franken erwerben konnte.
Ich werde alles daran setzen, aus dem Schloss einen Ort der kulturellen Bedeutung und der menschlichen Begegnungen zu schaffen und damit einen Beitrag zur Attraktivität der Gemeinde und der Gesamtwirtschaft der Region zu leisten.
Für die «Fundaziun Chastè da Tarasp» nimmt die langjährige Suche nach einer Lösung für das Schloss somit einen positiven Abschluss, da es nun als öffentliches Gut für die Region erhalten bleibt.
Der Künstler hält sein Versprechen. Schritt für Schritt stattet er das Schloss mit zeitgenössischer Kunst aus. Dabei bewahrt er Altes und respektiert die Geschichte des Chastè, wie die grösste Privatorgel Europas, welche mit 2700 Pfeifen auf drei Stockwerken verteilt ist. Hin und wieder sitzt er selbst vor dem Instrument und lässt die eindrücklichen Töne erklingen.
Es ist bemerkenswert, wie Vital seine eigene Kunst und Kunstsammlung in den Räumlichkeiten einbringt und dabei den ursprünglichen Charakter des geschichtsträchtigen Schlosses erhält. Und auch in der Aussenanlage und in der unmittelbaren Umgebung gibt es einiges zu entdecken. Auf dem Lai da Tarasp, dem kleinen See, schwimmt eine riesige Metallkugel. Sie stellt nichts anderes als den Mond, in dessen silbernen Glanz sich die Umgebung spiegelt, dar.
Unterstützung erhält Not Vital von der jungen, international tätigen Engadinerin Giorgia von Albertini, die ihn durch ihre Mutter, ebenfalls Künstlerin, schon seit ihrer Kindheit kennt. Seit 2014 arbeitet sie als Kuratorin und organisiert seine Ausstellungen.
Der Schriftsteller
Vitals künstlerisches Wirkungsfeld ist vielfältig. So bezeichnet Chasper Pult, Lehrbeauftragter für die rätoromanische Sprache und Kulturvermittler, ihn während einer Lesung in der Chesa Planta in Samedan als talentierten Schriftsteller. Schon früh begann der Künstler Gedichte zu verfassen, zuerst unter dem Pseudonym OMV (Otto Maria Vital, der Name seines Vaters). Kürzlich erschein sein Buch «Kec' & frajas».
Sentiner
Not Vital ist 1948 im Bergdorf Sent, welches hoch über dem Inntal liegt, auf die Welt gekommen. Seit 700 Jahren ist seine Familie dort zu Hause. Sent ist zudem für seine randulins (rätoromanisch für Schwalben) bekannt: Menschen, die immer weggingen aber wieder zurückkehrten - so wie auch Vital.
Seine Leidenschaft für die Konstruktion erhielt er durch die Arbeit seines Vaters, Otto Mario Vital, welcher im Holzgeschäft tätig gewesen ist und ein Sägewerk besass. Der junge Vital errichtete zuerst aus Langeweile, in der «fernsehlosen Zeit» erste Bauten in der Umgebung.
Ich habe von meinem Vater nicht vieles, aber wichtiges übernommen.
Den ersten Bezug zur Kunst erhielt er durch den einflussreichen Kunsthistoriker Max Huggler (1903-1994), welcher bei Sent ein Ferienhaus hatte und den damals jungen Not Vital mit hochwertigen Kunstwerken in Berührung brachte. Ein weiterer Wegbereiter, der ihm später zum Durchbruch verhalf, ist der Galerist und Kunstsammler Gian Enzo Sperone, der Werke von Vital in seiner Galerie in New York ausstellt.
Nach dem Schulabschluss hielt es die «randulina» nicht mehr in Sent und der angehende Künstler begann die Welt zu bereisen. Zuerst zog es ihn, wie so viele vor ihm, nach Paris, wo er die Kunsthochschule besuchte. Es folgte Rom und New York sowie seine jüngeren Arbeitsorte in Rio de Janeiro und Peking. Dennoch ist er, wie es sich für eine Schwalbe gehört, immer wieder in sein Heimatdorf zurückgekehrt.
Parkin Vital
Fast unscheinbar am westlichen Dorfeingang von Sent liegt der Parkin. Nur ein Tor, welches man bei der Fahrt nach Sent leicht übersehen kann, sowie die kunstvolle Skulptur davor, die Vital seinen Freund, dem chinesischen Künstler Ai Weiwei geschenkt hat, weisen darauf hin, dass sich beim stolzen Engadiner Dorf noch etwas anderes verbergen könnte: Eine Parklandschaft, ja viel mehr eine Märchenwelt auf 23000 m2.
Das Grundstück war bis 1965 in Besitz des Auswanderers Luzio Crastan, der daraus seine Ferien- und Altersresidenz mit einer prächtigen Villa schaffen wollte. Doch das Vorhaben wurde nie zu Ende geführt und nach seinem Tod verkaufte seine Tochter die Fläche an Otto Augustin, bevor Not Vital 1998 das Grundstück erwarb und mit Hilfe seines Bruders Duri Vital anfing, den Parkin aufzubauen.
Während der Führung durch die geheimnisvolle Grünanlage laden Eselsbrücken Wagemutige ein, auf Aluminiumschädeln, teilweise hoch über dem Boden, sie zu überqueren. Auf einer, wie es scheint, schwebenden Bühne, kann die umliegende Natur und das Bergpanorama besonders aufgesogen werden. Immer wieder sind Skulpturen zu entdecken. Die Inszenierung zwischen Fantasie und Realität zwischen Natur und Kultur fasziniert. Es ist nicht nur ein Ort zum Verweilen. Es ist ein Ort zum Sein. Und wenn man meint, nichts mehr erwarten zu können, dann öffnet sich an einem Hang die Erde und ein Haus steigt empor.
Not Vital verändert die künstlerische Landschaft im Unterengadin. Er bereichert sie und lädt alle Interessierten ein, ihn auf seiner Reise ein Stück zu begleiten.
Als ich des Suchens müde war, lernte ich das Finden
Zitat 1 Eröffnung des «House to watch the sunset», Tarasp, 13.08.2018
Zitat 2 Pressemitteilung, 30.03.2016
Zitat 3 & 4 Begegnung mit Not Vital und Chasper Pult, Chesa Planta, Samedan, 22.08.2018
Von Dominik Täuber