Von den Bergen aufs Wasser
George Hein

Früher Morgen auf Motta Naluns. Die Luft ist klar und kühl. George Hein schlüpft in seine Velojacke und blickt über ein Nebelmeer, das zwischen den Bergflanken hängt. Der leidenschaftliche Biker saugt die einmalige Stimmung auf, die auch er nicht oft zu sehen bekommt, obwohl er viel Zeit hier oben verbringt. Dann fährt er los und nimmt den «Sentiago»-Trail unter die Räder. Nach einer knappen Stunde Singletrail-Spass sitzt er in der Raftbasis in Scuol und plant Wildwasserfahrten für Gäste aus aller Welt.

Hobbys zum Beruf gemacht
Ob Biketrail, Wildwasserfluss oder Tiefschneehang – George liebt es, mit den Elementen zu spielen und als Outdoor-Sportler um die Welt zu reisen. Sesshaft ist er schliesslich in Scuol geworden, wo er als Geschäftsführer von «Engadin Adventure» Rafting-Touren auf dem Inn organisiert und einen Bikeshop mit Profi-Werkstatt, Verkauf und Vermietung betreibt. «Mit dem Unterengadin habe ich eine wunderschöne Ecke in der Schweiz gefunden, wo ich meine Hobbys ganzjährig zum Beruf machen konnte.» Im Winter arbeitet er für die Skischule Scuol-Ftan.
Die Giarsunschlucht ist eine der Top-5-Rafting-Strecken in Europa.

Das beste Wildwasser der Schweiz
Gäste treten in die Raftbasis. George begrüsst sie herzlich und erklärt ihnen, was sie heute erwartet: River Rafting durch die berüchtigte Giarsunschlucht, wo das beste Wildwasser der Schweiz wartet mit einer Stromschnelle nach der anderen. Die Gäste werden einem Raftguide zugeteilt, der sie mit Neoprenanzug, Schwimmweste und Helm ausrüstet und ihnen ausführlich erklärt, was sie wissen müssen für dieses Abenteuer auf einer der Top-5-Rafting-Strecken Europas.

George selber ist nicht mehr allzu oft auf dem Inn. «Ich sitze definitiv mehr im Büro als im Rafting-Boot», schmunzelt er. Doch er kennt noch immer jeden Stein und jede Stromschnelle und geniesst es jedes Mal, wenn er mit seinem Paddel losziehen kann. «Die Leidenschaft ist immer noch da.»
Auf Flüssen in der ganzen Welt
16 Jahre lang war er als professioneller Raftguide unterwegs – nicht nur auf dem Inn, sondern auf schwierigen Flüssen in Nepal, Mexiko, Argentinien, Neuseeland. «Um die anspruchsvolle Giarsunschlucht mit Gästen sicher befahren zu können, braucht es viel Erfahrung. Gute Raftguides ziehen darum von Fluss zu Fluss und von Kontinent zu Kontinent.» Dies ist auch der Grund, wieso das Team von George so international aufgestellt ist. Seine Guides stammen aus England, Argentinien, Nepal oder kennen so etwas wie ein Heimatland gar nicht.

Der Inn im Unterengadin bietet verschiedene Rafting-Strecken für alle Niveaus – das ist einzigartig
Drei Strecken zur Wahl
Neben der Giarsunschlucht (Schwierigkeitsgrad 4+ von 5) bietet der Inn rund um Scuol zwei weitere Rafting-Strecken: die Scuol-Schlucht (Schwierigkeitsgrad 3), die sich im unteren Bereich auch hervorragend für gemütliches Family-Rafting eignet (Schwierigkeitsgrad 2). Hinzu kommt der Flussabschnitt nach dem Kraftwerk Pradella bis Martina, der bei hohem Wasserstand, wenn die anderen Strecken nicht mehr befahrbar sind, eine schöne Alternative darstellt. «Verschiedene Strecken zur Auswahl zu haben, ist aussergewöhnlich und ein grosser Vorteil für uns», sagt George. «Auch darum ist das Unterengadin so beliebt bei Wildwassersportlern.»

Zum ersten Mal auf dem Inn war George im Sommer 1997. Er fragte Fletsch, den langjährigen Leiter der Raftbasis in Scuol, ob er nicht bei ihm arbeiten könne. Er kannte den Neuseeländer von gemeinsamen Skilehrerzeiten. Heute sind die beiden nicht nur gute Freunde, sondern seit vielen Jahren Nachbarn in ihrer gemeinsamen Wahlheimat Scuol.
Sofort fasziniert vom Wildwassersport
George war vom ersten Moment an fasziniert vom Wildwassersport. «Rafting war etwas komplett Neues für mich, doch es erinnerte mich ans Freeriden mit dem Snowboard, ans Windsurfen und Biken. Wie in den Bergen oder auf der Welle im Meer muss man auch im Fluss immer die richtige Linie finden.» In der Folge durchlief George alle River-Rafting-Ausbildungsstufen bis hin zum Tripleader.
River Rafting erinnerte mich ans Snowboarden und Biken. Es geht darum, die richtige Linie zu finden.
Vom ewigen Winter zum ewigen Sommer
Während dieser Zeit reiste er den Flüssen hinterher und lebte den Traum des endlosen Sommers. «Damals hatte ich so richtig genug vom Winter». Denn zuvor machte er es genau andersrum und jagte jahrelang dem Schnee nach, war Schneesportlehrer in der Schweiz und Neuseeland, später auch in Kanada, Colorado und Japan, stand rund 200 Tage pro Jahr in Ski- oder Snowboardschuhen. «Irgendwann taten mir schlicht die Füsse weh.»

Die Rafting-Gäste sitzen im Bus, der von George gefahren wird. Hinten stapeln sich zwei Rafting-Boote auf einem Anhänger. «Aus Sicherheitsgründen ist man immer im Konvoi auf dem Fluss unterwegs», erklärt der 58-Jährige. «Falls nur ein Boot besetzt werden kann, kommt ein zusätzlicher Raftguide in einem Kajak mit. Die Gäste werden immer von zwei Profis begleitet, die bei einem Zwischenfall helfen können.»
Immer im Konvoi auf dem Wasser
Die Stimmung ist locker und ausgelassen, es fallen Sprüche wie: «Das Gefährliche am heutigen Tag ist die Busfahrt – und nicht die Flussfahrt.» George erklärt, dass ein Raftguide nicht einfach nur Bootskapitän ist, sondern auch Unterhalter, Coach und Psychologe. «Menschen richtig einschätzen und führen zu können, ist eine wichtige Kompetenz. Humor hilft dabei.»

Plötzlich verstummt das Lachen. Während des Sicherheitsgesprächs blicken die Gesichter ernst und aufmerksam drein. Die beiden Raftguides erklären ihrer Gruppe, was die No-Go's und Must-Do's sind, wie man sich bei einem Sturz ins Wasser verhält und warum man den Paddelgriff niemals loslassen soll: nämlich den Zähnen zuliebe.
Paddelgriff nie loslassen
Nach einem kurzen Paddeltraining an Land werden die Boote ans Wasser geführt, die Gruppen steigen ein – und los geht’s. George wünscht viel Spass und macht Erinnerungsfotos. Zwei Stunden später und zwölf Kilometer weiter unten, holt er sie wieder ab.
Der Inn ist der Grund, warum ich nach Scuol gekommen bin. Geblieben bin ich, weil ich hier auch super biken und snowboarden kann.
George war bereits als Kind ein Weltenbummler: Geburt in der Schweiz. Frühe Kindheit in den USA. Für die Schulzeit zurück in die Schweiz, zunächst nach Flims, dann nach Greifensee im Zürcher Oberland, wo George das Element Wasser entdeckte und zum Windsurfer wurde.
Karriere oder Snowboardlehrer?
Als Nächstes eine kaufmännische Lehre und der Beginn einer klassischen Wirtschaftslaufbahn mit Stationen bei Banken und Industrieunternehmen. Doch nach fünf Jahren hatte er genug vom Büroleben. George vermisste die Berge und das Leben mit der Natur. Also wurde er Snowboardlehrer, reiste viel herum und machte seine Hobbys immer mehr zum Beruf.

So schön wie Neuseeland
Das Unterengadin erinnert George – vor allem wenn viele Schafe auf den Weiden sind – an die Region Canterbury in Neuseeland, wo er immer wieder über längere Zeit gelebt hat. «Ich schätze die ursprüngliche Natur, die mächtigen Berge, die vielen Sportmöglichkeiten und die gute Community. Zudem habe ich im Engadin die Liebe meines Lebens gefunden.» Ironischerweise ist seine Partnerin ebenfalls am Greifensee aufgewachsen, auf der anderen Seeseite von Georges Familienhaus. Kennengelernt haben sich die beiden jedoch erst in Scuol.

George steht unterhalb des Dorfs Ardez am Inn, wo das Rafting-Abenteuer durch die Giarsunschlucht endet. Er hat die letzte Stromschnelle im Fokus seiner Kamera und wartet auf seine Gäste. «Flip-Flop» heisst diese Passage vielsagend, da sich hier schon das eine oder andere Boot gedreht hat. Und tatsächlich, ein Boot beginnt sich zu neigen, doch alles geht gut. «Heute ist die Passage kein Problem», versichert der Raft-Profi.
Vom kalten Fluss in die Sauna
Die Gäste sehen ein bisschen abgekämpft aus, tragen aber ein breites Grinsen im Gesicht: «Das war Action pur!» – «Was für ein Naturerlebnis» – «Phänomenal, aber nun ist mir etwas kalt». Darum geht es schnell zurück in die Raftbasis, wo Getränke und eine eingeheizte Sauna warten


Text: Franco Furger
Bilder: Dominik Täuber